Globe Unity Orchestra

Freitag, 30. September, 20:00 Uhr, Bessunger Knabenschule

Das Unvorhergesehene als formbildende Kraft – 50 Jahre Globe Unity Orchestra

Foto: NeoNeumann
Foto: NeoNeumann

Gerd Dudek, fl, soprano, ts
Henrik Walsdorff (as)
Evan Parker (ts)Rudi Mahall (b-cl)
Manfred Schoof (tr, fl-h)
Axel Dörner (tr)
Christof Thewes (tb)
Alex v. Schlippenbach (p)
Paul Lovens (dr)
Paul Lytton (dr)

Wir schreiben das Jahr 1966. In China beginnt die „Große proletarische Kulturrrevolution“,

in Deutschland präsentiert Heinz Schenk zum ersten Mal den Blauen Bock. Peter Handkes „Publikumsbeschimpfung“ wird uraufgeführt. Ludwig Erhard tritt zurück und erstmals regiert eine schwarz-rote Große Koalition unter Kurt-Georg Kiesinger das Land. Der neue Außenminister heißt Willy Brandt. Die Single-Charts des Jahres 1966 verzeichnen Nummer-1-Hitswie Marmor, Stein und Eisen bricht und Ganz in Weiß ebenso wie Strangers in the Night und Yellow Submarine. Es ist ein Jahr des Übergangs, des Aufbruchs – in Deutschland wie in der Welt, ind er Politik wie in der Kultur.

Die von Joachim-Ernst Berendt geleiteten Berliner Jazztage bringen den Bossa-Nova-Welterfolg Stan Getz & Astrud Gilberto, die bewährten Bands von Dave Brubeck, Max Roach, Albert Mangelsdorff. Den Brüdern Rolf und Joachim Kühn beschert ihr Auftritt in Berlin eine Einladung nach Amerika. Daneben gibt es aber eine „Third Stream“-Schiene, die zeigen soll, wie Jazz und neue Musik sich einander annähern.

Am 3. November 1966 erklingt so auf der Bühne der Philharmonie – umrahmt von einer Komposition für Streichquartett und Jazz-Solisten des Komponisten Boris Blacher und von den bizarren kindlichen Free-Hymnen des amerikanischen Avantgardisten Albert Ayler – ein Werk des Pianisten Alexander von Schlippenbach für ein 14köpfiges Ensemble. Im Auftrag des Radios im amerikanischen Sektor (RIAS)hat er die führenden Musiker des gerade entstehenden europäischen Free Jazz aus den Bands von Manfred Schoof, Peter Brötzmann, Gunter Hampel zu einer Großensemble zusammengestellt. Die Komposition mit dem programmatischen Titel Globe Unity besteht aus einer strukturierten 19minütige Kollektivimprovisation, die bei Publikum und Kritik gleichermaßen Entsetzen und Jubel auslöst und rasch zum meistdiskutierten Ereignis des Festivals avanciert.

Ein Manifest des europäischen freien Jazz und der Startschuss für eine der unwahrscheinlichsten Unternehmungen der jüngeren Jazzgeschichte: eine frei improvisierende Bigband, die nun schon seit 50 Jahren und in ungebrochener Kreativität existiert und nach wie vor von Alexander von Schlippenbach durch die Gezeiten der musikalischen und gesellschaftlichen Entwicklungen geführt wird.

Wir sind nicht wenig stolz, mit Alexander von Schlippenbach, Manfred Schoof und Gerd Dudek Musiker aus dieser Urbesetzung präsentieren zu können – neben so stilbildenden Persönlichkeiten wie Paul Lovens und Paul Lytton, denen Schlippenbach schon jahrzehntelang verbunden ist – sowie profilierten Vertreter einer jüngeren und mittleren Generation – unter ihnen auch die der Darmstädter Szene verbundenen Christoph Thewes und Rudi Mahall.

Die Geschichte des Globe Unity Orchesters würde ein Buch füllen – die erste Schallplatte „Globe Unity“ bei SABA, die Auftritte bei den Berliner Jazztagen und in Donaueschingen im Mekka der Neuen Musik, dann die Wuppertaler Zeit, in der sich Schlippenbach mit Peter Kowald die Leitung teilen, in der Einflüsse aus Volksmusik, Politik, Theater zunehmen, Eisler und Weill gespielt wird und Willem Breuker Arrangements für das Ensemble schreibt. Jost Gebers Independent-Label FMP, dessen Archiv mittlerweile im Darmstädter Jazzinstitut lagert, mit seinem Total Music Meeting, werden zur zeitweiligen Heimat der Band. Später dann die Platten für Manfred Eichers ECM. Der Bruch mit Peter Kowald und die Reisen in alle Welt für das Goethe-Institut. Die Einflüsse der Neuen Musik, Bernd Alois Zimmermann, die Entwicklung eines spezifisch europäischen Ansatzes der freien Improvisation, der Anschluss an die geliebte afroamerikanische Jazz-Tradition (Thelonious Monk), die Zusammenarbeit mit amerikanischen Gastmusikern wie Steve Lacy und George Lewis.

Nach all den auch stilistischen Entwicklungen ist der Fokus von Globe Unity wieder zum Ausgangspunkt zurückgekehrt – einer freien Form, die in der kollektiven Improvisation entsteht, die davon lebt, dass sich spezifische Musikerperönlichkeiten mit bestimmten Erfahrungen, Spielhaltungen und einem gemeinsamen musikalischen Verständnis in einen offenen musikalischen Prozess begeben und aus der Dynamik des Augenblicks ein Werk gestalten.

Es geht hier also um eine ganz charakteristsiche und jazztypische Haltung – die Globe Unity in aller Radikalität lebt. Die Strahlkraft dieser Spielhaltung, die ja eigenlich eine Lebenshaltung ist, ist ungebrochen. Diese Musik kann Ihr Leben verändern. Die Musiker um Schlippenbach geben ein Beispiel, welche Energien freigesetzt würden, wenn wir uns wirklich dem Augenblick hingeben könnten, uns selbst und unserem Gegenüber auszuliefern wagten.